Karin Kramer Verlag Leseproben

Klaus Barski
DER FRANKFURTER SPEKULANT
Ein Wirtschaftskrimi
3-87956-253-9  /  288 Seiten
Euro (D) 12,--  /  sFr 21,20


INHALT

  Florida Days
  Frankfurt
Bremen
Paris
Oldenburg
Frankfurt II
Saalmüster
Frankfurt III
Ibiza
Everglades-Paradise
Florida Days



 

FLORIDA DAYS


   Wenn ich mit meinem Rolls Royce beim Colonial Paradise Club vorfahre, denken nicht nur die staunenden Touristen: Da kommt der King! Mit einem gutmütigen Grinsen grüße ich die uniformierten Wachmänner, die die Spreu vom Weizen trennen, die In-Leute von den Armleuchtern. Sie stehen stramm wie Soldaten und nicken mir mit ihren tropenhelmbedeckten Köpfen ehrfürchtig zu. Ich tippe mit der rechten Fußspitze leicht auf das Gaspedal, und der tonnenschwere, goldbraune Rolls gleitet fast lautlos mit seiner glitzernden Chromschnauze auf den Golf von Mexico zu.
   Valet-Parking. Eifrig öffnet uns der Einparker die Tür und grüßt untertänig. Kostet 5 Dollar Trinkgeld. Dann schreiten wir hinein, in den teuersten Strandspielplatz der Westküste Floridas. Happy hour: Die betuchten und gelangweilten Müßiggänger sitzen an einer endlos langen Bar und trinken Whiskey-Sour oder einen exotischen Zombie-Cocktail aus langstieligen Gläsern mit viel Eis, dekoriert mit Früchtescheiben und bunten Strohhalmen.
   Millionenschwere Börsen- oder Häuserspekulanten, halbseidene Bankiers und wohlhabende Ärzte, verlebte Filmproduzenten, Leute aus dem Showgeschäft, Gangster mit koksentgleisten Zügen und goldbehangene Gigolos - vor dem Club parken ihre Angeberkarossen: elegante Bentleys und Jaguars, rasante Ferraris, Porsches und Mercedes-Cabrios, gigantische Stretch-Limousinen mit Chauffeur und Video-Anlage.
   Ich gehöre dazu, und ich trage, wie alle anderen, am linken Handgelenk meine diamantenbesetzte Rolex. Wir sprechen wie immer über die gute, alte Zeit, als in Florida Häuser und Grundstücke billig waren und der Dow Jones unter 2000 lag. Und wir sind immer noch am Spekulieren und treiben die Preise weiter in die Höhe.
   Vor der Bar rollen die Wellen unablässig an den Strand und werfen, weil die letzten Tage sehr stürmisch waren, die seltensten Muscheln auf den Sand. Die glücklichen "Ahs" und "Ohs" der fündigen Muschelsammler hört man durch die dunklen, dämpfenden Glasscheiben hindurch.
   Eine Gruppe Pelikane belagert den einzigen Angler auf dem Pier, der ihnen hin und wieder einen kleinen Fisch zuwirft.
   Ich trinke Becks Bier und Jean einen violetten Strawberrry-Daiquiri. Die Palmen wanken leicht vor einer heranziehenden Gewitterfront und aus den Lautsprechern kommt gedämpfte, klassische Musik. Die großen mexikanischen Propeller der Deckenventilatoren brummen leise, und der Barmann mit Fliege und enger grauer Weste sortiert die Gläser, schneidet Limonen- und dünne Orangenscheiben zurecht und ordnet die Happy-Hour-Appetizer.
   Ich blicke hinaus auf die blaugrünen, mit leichten Schaumkronen besetzten Wellen und denke darüber nach, wie alles angefangen hat - damals...






 
FRANKFURT


   Mitten in der Nacht kamen wir 1967 auf einem Möbelwagen in Frankfurt am Main an. Ich, Adolf Bartels, 25 Jahre alt, Pleite-Kaufmann, und meine Frau Jean, ferner unsere Sammlung antiker Bauernmöbel aus besseren Zeiten und ein Aktenkoffer voll offener Rechnungen. Das war eine beschissene Situation, denn unsere Schulden betrugen zu diesem Zeitpunkt mehr als 30.000 Mark. Aber es war nicht das erste Mal, daß ich ganz unten war. Es hatte in meinem Leben zahlreiche Höhen und Tiefen gegeben.
   Ein paar Tage vorher hatte ich mittels Sozialhilfe unsere neue Bleibe, eine heruntergekommene Altbauwohnung in Frankfurt-Bornheim, gemietet. Unser Wagen, ein klappriges, feuerrotes SunbeamCabrio, war dort schon vor längerem abgestellt worden, weil wir Angst vor einer Pfändung hatten und keiner diese neue Adresse kannte. Um ein Uhr nachts waren wir dann, völlig durchgeschwitzt, eingezogen. Wir hatten es geschafft! Der Versuch, uns selbständig zu machen, war zwar gescheitert, aber der Ort mit unserer Pleite gegangenen Werbeagentur lag hinter uns. Wir waren wieder in Frankfurt, der Stadt der unbegrenzten Möglichkeiten für Deutschlands Habenichtse.
   Die Wohnung war deprimierend. Sie befand sich im dritten Hinterhof, im Erdgeschoß. Direkt vor dem Wohnzimmerfenster prangte eine hohe Mauer aus Ziegelsteinen. Es war so dunkel in der Wohnung, daß wir sogar am Tag das Licht einschalten mußten. Aufgrund der schlechten Wohnverhältnisse wurde das Haus sonst nur von Türken bewohnt. Aber bei den überall üblichen hohen Kautionen blieb uns keine andere Wahl. Trotzdem waren wir gut gelaunt; wir hatten den jugendlichen Glauben an eine bessere Zukunft - von jetzt an konnte es nur noch aufwärts gehen.
   Als wir am nächsten Morgen aufstanden und unsere besten Klamotten anzogen, waren wir in Hochstimmung. Nach dem ruhigen Leben auf dem Dorf freuten wir uns auf die Großstadt. Kaufhausbummel, Cafés, Kinos, Kneipen, Antiquitätengeschäfte und Museen - das alles hatten wir vermißt und jetzt endlich wiedergewonnen.
   "Wie bezahlen wir die 30.000 Mark Schulden?" fragte mich Jean, als wir durch Bornheim bummelten.
   "Weiß der Henker", erwiderte ich und dachte einen Moment über unsere triste Lage nach.
   "Das schaukeln wir schon. In einer internationalen Geschäftsstadt wie Frankfurt läßt sich immer irgendwie Geld auftreiben."
   Als wir in die Berger Straße einbogen, hörten wir jemanden "He Adi!" rufen. Vor uns stand Heinz Dreckmann, ein Bekannter aus früheren Tagen. "Heinz! Immer noch in Frankfurt?" fragte ich lächelnd, als wir uns gegenseitig auf die Schultern klopften.
   "Was machen die Geschäfte?"
   Er war von Beruf Grafiker, Dekorateur, Schriftenmaler und Anstreicher, je nach Auftragseingang. Ein kleiner, aber drahtiger Körper, überdimensionierte getönte Brille und immer ein weißes Hemd mit Fliege - das war Heinz, der große Schaumschläger.
   "Ich lade Euch zum Essen ein", sagte er großspurig.
   Gerade das hatten wir nötig.
   "Gehen wir ins Bilka. Die haben heute den 99-Pfennig-Erbseneintopf", ergänzte er.
   Wir bummelten zu dritt zum Kaufhaus. Während wir aßen, erzählte jeder dem anderen von seiner beschissenen Lage. Großzügig zahlte Heinz die Zeche, obwohl er, wie wir jetzt wußten, ebenfalls pleite war.
   "Habt Ihr heute frei?" fragte Heinz.
   "Ja. Komm, fahren wir in die City und trinken einen Kaffee bei Schwille", schlug ich vor.
   Es war Freitag. Im Café Schwille, dem bekannten Tagestreffpunkt, wartete ich auf das Erscheinen der Abendausgabe der Frankfurter Rundschau, um die Stellenangebote zu studieren und nach meiner Kfz-Verkaufsanzeige zu suchen. Mit dem Geld vom Verkauf unseres Sunbeams hoffte ich unsere Finanzen zu regeln.
   Wir unterhielten uns über die alten Zeiten und fühlten uns großartig in der langentbehrten Großstadtatmosphäre.
   Dann fuhren wir mit der Straßenbahn zur Wohnung zurück; dort wartete bereits ein Kaufinteressent. In einer Viertelstunde hatten wir den Wagen verkauft.

   Am folgenden Montag eröffneten wir ein Konto und zahlten das Geld ein. Dann machten wir uns an die Arbeit und schrieben all unseren Gläubigern den gleichen herzzerreißenden Brief. Jeder bekam einen kleinen Scheck und das Angebot, daß wir den Rest in Monatsraten zahlen würden. Tatsächlich erhielten wir in den folgenden Tagen von allen Gläubigern eine positive Antwort. Wir hatten Zeit gewonnen.
   Das Jahr ging langsam zu Ende und seit drei Wochen schon studierte ich die Stellenanzeigen. Mein Arbeitslosengeld reichte nicht aus, und ich mußte endlich handeln. Ich träumte von einer ruhmvollen Karriere als Manager in Handel oder Industrie.
   Dann sah ich die Anzeige. Kanadas größter Nähmaschinenhersteller Ontario Sewing Machine Company suchte einen Schulungsleiter. Das war etwas für mich!
   Dr. Hoffmann, der Vertriebsdirektor der Firma, war ein gemütlicher, dickbäuchiger Mann. Er empfing mich mit Begeisterung, weil ich ihm am Telefon ein kreatives Verkaufsgespräch hingelegt hatte, nach dem er schon glaubte, nicht mehr ohne mich auskommen zu können.
   "Dem neuen Schulungsleiter sind drei Bereiche unterstellt: Verkaufsförderung, Verkäuferschulung und das Schulgeschäft", fing er an. "Das bedeutet die Erstellung von verkaufsförderndem Material, zum Beispiel Gebrauchsanweisungen, Verkaufstrainingsunterlagen und Verkäuferwettbewerbe." Er nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse, faltete die Hände zusammen und fuhr fort: "Die Schulung der Verkäufer erfolgt durch Schulungsinfos und zwei Verkaufstrainer, die laufend mit neuen Unterlagen ausgerüstet werden müssen. Dazu gehören..." - dann redete er fast eine Stunde ohne Pause.
   Mir schwirrte der Schädel von den vielen Marketingphrasen, aber ich nickte begeistert.
   Dann zeigte er mir die Unterlagen, die bisher von der Schulungsabteilung erarbeitet worden waren und sagte: "Auf dem deutschen Markt ist die SingerNähmaschine zur Zeit die Nummer eins. Aber das wird sich bald ändern."
   Feierlich schloß er einen Schrank auf und holte eine Nähmaschine heraus.
   "Unser Kampfmodell, die neue SuperSew 2000. Vergleichbare Maschinen der Konkurrenz kosten das Doppelte", sagte er so stolz, als hätte er sie persönlich erfunden. "In zwei Monaten kommt sie auf den Markt."
   Noch einmal mimte ich Begeisterung und wurde eingestellt.
   An meinem ersten Arbeitstag betrat ich erwartungsvoll das Marketingbüro. Ja, ich wollte den Erfolg, den totalen Erfolg! Als Grundlage sollte mir die Erfahrung dienen, die ich hier in dieser Weltfirma sammeln würde. Dr. Hoffmann übergab mir mein Büro.
   "Ein angenehmes Arbeitszimmer mit Blick auf die Allee", sagte er.
   "Sehr schick", dachte ich, als ich es betrat. Es war mit einem beigefarbenen Teppichboden, einem Schreibtisch aus Edelholz und einem weichen Sessel mit Armlehnen und Rädern eingerichtet. Der Sessel gefiel mir besonders, weil er für mich der Inbegriff eines Topmanager-Sessels war.
   Dann machte Dr. Hoffmann mich mit meiner Sekretärin Fräulein Heine sowie den mir unterstellten Angestellten und den zwei Verkaufstrainern bekannt. Das waren clevere Jungs, die es galt in Schach zu halten.
   Ich stürzte mich in die Arbeit, entwickelte Verkaufsförderungsprogramme und einen Jahreseinsatzplan, sichtete Aktionen der vergangenen Jahre und sprach meine neuen Ideen mit den Mitarbeitern durch.
   Ehe ich mich versah, war ich ein stinknormaler 8-Stunden-Arbeitstag-Mann geworden. Die Monate vergingen, und ich wurde immer unzufriedener. Ein Grund war das Monatseinkommen. Für eine schöne Zweizimmerwohnung in der City, einen Mittelklassewagen, zweimal Urlaub im Jahr, gepflegte Kleidung und einmal pro Woche gut Essengehen reichte das Einkommen vorne und hinten nicht.
   Hinzu kam, daß ich mit 25 Jahren relativ jung für meinen Job war. Die nächst höhere Position eines Marketingdirektors hätte noch einige Jahre harte, sehr harte Arbeit und eine Portion Glück bedeutet.
   In unserer Freizeit verkehrten Jean und ich im Viertel rund um die Freßgaß´. Hier gab es damals viele interessante Kneipen, die heutigen Schickerialäden existierten noch nicht. Wir verbrachten unsere Abende im Jazzhaus, im Club Voltaire oder in Weils Bodega, um Frikas mit Knoblauchcreme zu essen. Unseren Kaffee aber tranken wir immer im Schwille.
   Hier traf sich alles, was bunt und schillernd war: Geschäftemacher, Hochstapler, Hasardeure, Protzer, Tagträumer - und auch ganz normale Leute, um den guten Kaffee und die köstlichen Kuchen zu genießen.
   Die Stammgäste saßen immer vorn am großen Fenster. Viele trugen modische Klamotten und teure Uhren. Sie parkten ihre Angeberwagen mit Vorliebe direkt vor dem Caféhaus.
   Diese in meinen Augen erfolgreichen Leute zogen mich an wie ein Magnet. Ich bewunderte sie! Sie schmissen mit dem Geld nur so herum, sprachen von gewinnträchtigen Geschäften, starken Frauen und schnellen Autos. Während ich mich nur eine Viertelstunde aus dem Büro davonstehlen konnte, saßen sie den ganzen Tag gemütlich an den Cafétischen und taten gar nichts.
   Als ich einmal wagte, mich zu ihnen zu setzen, schaute mich einer von ihnen, ein VW-Cabrio-Fahrer im taubengrauen Anzug, entrüstet an. Dann deutete er nach hinten und sagte arrogant: "Hier ist alles reserviert. Mach die Mücke!"
   Die anderen unterbrachen eine Sekunde lang ihre Unterhaltung. Man musterte mich verächtlich, als ob ich das letzte Arschloch sei, und diskutierte dann weiter.
   Verdattert ging ich nach hinten, wo ich das bekannte Gesicht von Heinz Dreckmann erblickte. Er saß allein an einem Tisch und stocherte in einer Sahnetorte herum.
   "Da vorne sitzt nur die Prominenz", scherzte er und zog mich auf den Nebenstuhl.
   "Ganz unangenehme Burschen", sagte ich verärgert.
   "Bei denen zählt nur die Kohle", sagte er. "Da mußte mit ‘nem Porsche vorfahren und einen Dreikaräter am kleinen Finger tragen."
   "Was sind das für Leute?"
   "Der, der dich weggeekelt hat, ist Meier, ein mittlerer Versicherungsangestellter." Er lächelte mit saurer Mine. "Links neben ihm, der kräftige Typ, ist Wilhelm Weich. War mal Boxer, ist nun Makler. Wenn du dem die Hand gibst, dann mußte anschließend deine Finger nachzählen, so ´ne Type ist das. Macht viel Geld und fährt ein neues Mercedes Coupé."
   Beeindruckt nickte ich mit dem Kopf.
   "Der mit der Hornbrille ist Telly Goldstein, ein Architekt aus Tel Aviv und von Beruf Sohn. Er fährt ´nen roten Alfa und sein Vater besitzt Häuser im Bahnhofsviertel."
   Eine Kellnerin kam. Ich bestellte mir ein Kännchen Kaffee und hörte weiter interessiert zu.
   "Der Blonde am Tisch, mit dem Rücken zu uns, ist der Baron von Bauerberg. Ein netter Typ, ein echter Baron. Sie nennen ihn Money, weil er nie Geld hat und davon träumt, durch Mauschelgeschäfte reich zu werden."
   Während Heinz sprach, hielt ein roter Jaguar vor dem Schwille. Ein schlanker Mann mit langen, gepflegten Haaren und einem blasierten Gesichtszug stieg aus. Er kam ins Café und setzte sich zur Prominenz, die ihn respektvoll begrüßte.
   "Das ist Schulz, der Sklavenhändler aus Bremen", flüsterte Heinz. "Der macht jede Menge Kies mit Leiharbeitern, die er schwarz beschäftigt. Offiziell hat er eine richtige Zeitarbeitsfirma am Hauptbahnhof."
   Schulz setzte sich ans Ende der Gruppe, direkt unter die freischwebende Elementtreppe.
   Heinz grinste wissend.
   "Das ist ein Genießer. Da gehen immer die Schnallen zum Damenklo hoch."
   "Bei den Miniröcken heutzutage ist das eh egal", bemerkte ich.
   "Haste auch wieder recht."
   Er deutete nach vorn. Ein gut aussehender Dressmantyp kam herein und begrüßte die Prominenz.
   "Mike von Habenberg, der Sprudelautomatenvertreter", sagte er.
   "Der will ganz nach oben und mit den großen Hunden pinkeln gehen. Dafür ist er bereit, seine Seele zu verkaufen. Trotzdem, er ist in Ordnung. Er hat es eigentlich nicht nötig, das Äffchen zu machen."
   "Heinz, Du kennst dich hier aus wie kein anderer!"
   Er zuckte mit den Schultern.
   "Na, ich gehöre auch zu den vielen hier, die es denen da vorne einmal zeigen möchten. Ich hab´ ja auch ´ne Spitzenidee. Ich brauche nur noch den Finanzier, der bei mir einsteigt."
   "Was willst du machen?"
   "Eine Fernsehzeitschrift."
   "Aber es gibt jede Menge, Hörzu, TV-Hören und Sehen..."
   "Die erscheinen wöchentlich. Ich mach’ was Neues, meine wird alle 14 Tage erscheinen."
   Ich schaute ihn mitleidig an.
   "Es kostet Millionen, eine Fernsehzeitschrift in Deutschland auf den Markt zu bringen. Heinz, das ist zu groß für Leute wie uns", sagte ich und stand auf.
   "Muß zurück ins Büro. Junge, ich wünsch’ Dir was."
   Ich legte das Geld für unseren Kaffee auf den Tisch und ging. Als ich bei der Prominenz vorbeikam, guckte keiner von ihnen auf. Für sie war ich eine Null.

(...)

Es war ein wunderschöner Morgen. Obwohl erst März, wärmte die Somme. Weich fuhr zum Haus Bergerweg 18.
   Das Gerüst war bereits abmontiert. Das Haus sah super aus, kanariengelb mit braunen Fenstersimsen. Im Erdgeschoß gab es zwei neue Geschäfte mit großen Schaufenstern. Links räumte der Besitzer, ein Metzgermeister, mit seinen Gesellen und Verkäuferinnen die Waren ein. Über dem Schaufenster war ein blauer Leuchtschriftzug angebracht: Fleischerei Geier. Der Laden daneben stand noch zum Verkauf, ebenso vier Wohnungen. Im ersten Stock rechts wohnten die stolzen Wohnungsbesitzer Herr und Frau Hornauer.
   Die Räumung war erfolgreich verlaufen. Alle waren ausgezogen; zuerst Frau Gebein, total zermürbt, dann der Student im Dachgeschoß. 8.000 Mark in bar hatte Weich ihm geboten, da wurde er schwach und warf seine Prinzipien über Bord.
   Nur mit der alten Muth aus dem ersten Stock war es schwer gewesen. Sie weigerte sich auszuziehen. Daraufhin ließ Weich ruckzuck eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung im Hinterhaus ausbauen. Sie war viel moderner als ihre alte Wohnung, mit richtigem Badezimmer, trotzdem weigerte sich die Alte, umzuziehen.
   Weich schrieb ihr einen Brief. Darin teilte er ihr mit, sie solle nur vorübergehend, während der Hausrenovierung, umziehen. Aber sie blieb stur und reagierte nicht. Dann bekam Schlotzky den eindeutigen Auftrag: "Schmeiß die Muth raus!"
   Und so wartete Schlotzky eines Tages mit einem Rollkommando, zwei kräftigen Möbelpackern, bis sie das Haus zum Vormittagseinkauf verlassen hatte. In dem Augenblick, als sie um die Ecke gebogen war, brachen sie die Tür auf und räumten ihr gesamtes Hab und Gut in die Hinterhauswohnung.
   Als Frau Muth zurückkam, fehlte die Wohnungstür, die Fenster waren herausgebrochen und die Tapeten hingen in Fetzen von der Wand. Schlotzky stand im Türrahmen und versuchte, sie zu beruhigen.
   Sie zitterte am ganzen Körper und ihr Gesicht war aschfahl. Sie brachte kein Wort heraus. Als sie zusammenbrach, fingen Schlotzky und einer der Möbelpacker sie auf. Die beiden brachten sie in die dunkle Hinterhauswohnung. Sie stöhnte und Tränen rannen ihr über das Gesicht.
   "Ist doch nur für ein paar Tage, Frau Muth", sagte Schlotzky. "Das kommt alles wieder in Ordnung." Dann gingen sie.
   Schlotzky war die ganze Sache unheimlich. Im Nachbarhaus wohnte eine Bekannte von Frau Muth. Schnell ging er zu ihr und erzählte, daß der Muth nicht ganz wohl sei. Er bat sie, sich um sie zu kümmern. Dann verschwand er.
   Zwei Tage später stand Weich in der Sonne und betrachtete sein renoviertes Haus, als ein dunkler Leichenwagen vorfuhr.
   "Hallo, Sie! Ist das Ihr Wagen?" rief der Fahrer. "Sie versperren die Einfahrt!"
   "Wo wollen Sie denn hin?" fragte Weich.
   "Ins Hinterhaus, die verstorbene Frau Muth abholen."
   Weich war entsetzt - hatte er diese Frau nicht auf dem Gewissen? Hastig stieg er in seinen Wagen, machte die Einfahrt frei und ließ den Leichenwagen passieren. Sie war zwei Tage nach der Zwangsräumung an einer "Herzgeschichte" gestorben.
   Schlotzky stand hinten im Hof und öffnete den Leuten vom Beerdigungsinstitut die Tür. Als er Weich sah, der gelähmt auf den Sarg starrte, ging er zu ihm. Verstört erzählte er Weich die Geschichte. Der hörte wortlos zu, winkte müde ab und fuhr davon. Eigentlich wollte er sagen: Wo gehobelt wird, fallen Späne, aber irgendwie war ihm bewußt, daß diese Einsicht in diesem Augenblick nicht so richtig paßte.


***




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